Interview – Traumkontinent Europa? (Bischof Jousten)

Die KAP hat den Bischof Jousten gefragt, wie er zu den Fragen der Flüchtlingspolitik steht. Bischof Jousten ist bekannt als jemand mit moralisch festen Grundsätzen auf dem Boden des christlichen Glaubens und eines auf Mitmenschlichkeit aufgebauten Menschenbildes. Der Bischof war so freundlich, und hat uns einige seiner Antworten zukommen lassen. Wir hoffen, dass diese auf offene Ohren stoßen und die Diskussion darüber bereichern, wie wir gesellschaftlich und politisch mit diesen Fragen umgehen sollen.

„Meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen empfehle ich, dass wir versuchen, zunächst zu erfahren, weshalb und auch unter welchen Umständen die „Ausländer“ zu uns gekommen sind. Wie wäre mir zumute, wenn ich ihren Weg von Zuhause bis bei uns machen müsste?“

„Ich empfehle weiter, dass wir ihnen nicht aus dem Wege gehen, sondern versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wo und wann dies sich ergibt. Interessant ist gleichfalls das Kennenlernen der Kulturen, der Lebensstile, der Religionen usw. Wir schauen uns manchmal Berichte über ferne Länder im Fernsehen an, reisen in die weite Welt. Weshalb nicht mit den Menschen aus der weiten Welt bei uns reden? Im Gespräch und bei anderen Gelegenheiten können wir uns gegenseitig bereichern, denn  jeder hat etwas zu teilen und nicht nur zu empfangen oder zu geben. Die Vielfalt ist ein Reichtum, den es zu entdecken gilt.“

Ein Interview.

Redaktion : Papst Franziskus hat Kritik an der Grenzbefestigung zwischen den USA und Mexiko. geübt.  Zu einem Journalisten, der ihm von seiner Erfahrung in Tijuana erzählte, soll der Papst gesagt haben: „Die Angst macht verrückt“. Unmittelbar südlich der Grenze zu Kalifornien reiche eine Mauer bis ins Meer, um Menschen vom Grenzübertritt abzuhalten, so der Journalist. Im Matthias-Evangelium steht: „Denn … ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen…“ Wie stehen Sie zur Frage der Immigration, die es augenblicklich weltweit zu beobachten gibt?

 

Bischof Jousten : Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht und suchen Schutz vor Gewalt, Krieg, Verfolgung, Missachtung der Menschenrechte usw. Plötzlich kommen Tausende von ihnen auf dem Traumkontinent Europa an. Von diesem Traum ist schon seit Jahren die Rede. Nun stehen sie nicht nur vor unserer Tür; sie sind seit einigen Jahren mitten unter uns: Flüchtlinge aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan, aus Eritrea, aus Somalia usw. Wenn sie das Mittelmeer überqueren wollen, setzen sie oft ihr Leben aufs Spiel.

 

Wir Europäer werden uns bewusst, dass auf der Welt an vielen Orten Krieg herrscht. Die Welt wird immer mehr eine Welt. Könnte man da nicht von „Welt-Krieg“ reden? Das Schicksal und Elend der ganzen Welt geht uns alle an. Solidarität und mehr noch politischer Wille sind die Forderung der Stunde; denn aus den Fernsehbildern sind Nahsehbilder geworden. Wir müssen die Flüchtlinge als Menschen, als Mitmenschen behandeln. Es beginnt damit, dass wir sie aufnehmen und ihnen die Mindestversorgung (Unterkunft, Essen usw.) gewährleisten. Den anerkannten Asylbewerbern wird eindringlich nahe gelegt, sich im Gastland in die Gesellschaft zu integrieren und – als erstes – die Umgangssprache zu lernen, damit sie sich um einen Arbeitsplatz bewerben können. Die Kinder müssen die Möglichkeit einer schulischen Ausbildung erhalten.

 

Redaktion : Sind die westlichen Länder aufnahmebereit ? Sind wir gegenüber den Menschen, die bei uns Zuflucht suchen hilfsbereit und tolerant ?  Versuchen wir nicht ausreichend, sie in unsere Gesellschaft zu integrieren ?

Bischof Jousten : Es liegt eine schwierige und fordernde Zeit vor uns; denn der freundliche Empfang, die überwältigende Hilfsbereitschaft und sogar Toleranz allein genügen nicht. Langfristig müssen gesellschaftspolitische Maßnahmen getroffen werden, damit die Fremden sich wirklich integrieren können, aber auch damit wir Europäer uns nicht überheblich verhalten, sondern eventuell bescheidener  in unseren Ansprüchen werden und dankbar für das bei uns erreichte Lebensniveau.

 

Durch eine solche innere Einstellung werden wir die Flüchtlinge eher und schneller als echte Mitbürger, als Schwestern und Brüder betrachten und achten. Mir steht der syrische Junge  vor Augen, der gerne hier studieren möchte. Er sagte voller Überzeugung: Ich schaffe das! Sollte unsere Antwort da nicht lauten: Wir schaffen es, dass du es schaffen wirst!

 

Nicht zuletzt ist der Flüchtlingsstrom von Menschen anderer Kulturen und Religionen eine gewaltige Herausforderung für alle Europäer, besonders auch an uns Christen; denn es genügt nicht, sie aufzunehmen und Toleranz zu praktizieren. Es gilt, unseren Rechtsstaat zu behaupten und unsere Werte zu bezeugen und als Christen fest in unserem Glauben zu stehen. Das baut Ängste ab und baut Vertrauen auf. Gleichgültigkeit könnte zum Chaos führen. Ein gutes Miteinander ist nur möglich, wenn der Dialog zwischen einander respektierenden Menschen gesucht wird.

 

Dialog bedeutet: jeder will sich vom anderen beschenken lassen, weil jeder das Gute und Schöne und Bereichernde beim anderen entdecken möchte, um gemeinsam ein gerechtes und friedliches Zusammenleben zu gestalten. Was können wir miteinander teilen? Wodurch können wir uns gegenseitig bereichern? Was können wir voneinander lernen? Integration ist keine Einbahnstraße. Sonst entstehen Ghettos oder Festungen.

 

Bei all dem sollten wir vor allem eines nicht vergessen:  Flüchtlinge haben ihr Zuhause nur ungern verlassen. Viele von ihnen werden wieder nach Hause gehen wollen, sobald sie es können. Dazu  müssen die Ursachen der Flucht vor Ort beseitigt, zum Besseren gewendet werden. Das ist im Grunde die einzig richtige und menschenwürdige Reaktion und Perspektive. Wir müssen es immer wieder betonen und uns dafür einsetzen.

 

Redaktion :  Das Mittelmeer bildet eine natürliche Grenze zwischen Europa und den Völkern Afrikas. Wie stehen Sie zur Haltung verschiedener Länder der EU, die Einwanderung afrikanischer Menschen komplett zu verbieten?

 

Die  Migration von Afrika nach Europa ist ein sehr verständliches und leicht zu erklärendes Phänomen. Angesichts der allseits bekannten sozialen und vor allem wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in den allermeisten Ländern unterhalb der Sahara kann ich mir sehr gut erklären, dass vor allem junge Menschen ihr Heimatland verlassen wollen, um in Europa eine bessere und sichere Zukunft und damit Lebensbedingungen zu suchen.

 

Dieser Traum der jungen Leute ist in meinen Augen verständlich, aber umso bedauernswerter. Denn die meisten afrikanischen Länder besitzen reiche Bodenschätze. Auch die Landwirtschaft könnte ganz anders betrieben werden, als dies bis heute der Fall ist.

 

Die Verantwortung der westlichen Industrieländer und auch Chinas ist gewaltig. Es geht eben nicht an, dass die reichen Länder von Afrikas Schätzen profitieren und sich nicht oder zumindest unzureichend für die integrale Entwicklung dieses Kontinents engagieren.  Daher ist die These, man solle die Einwanderung aus Afrika verbieten oder verhindern, wenigstens solange nicht gerechtfertigt, bis alles Mögliche für die Entwicklung dieser Länder und deren Bevölkerung getan wird. Wenn man weiß, weshalb Afrikaner auswandern (wollen), ist es umso mehr erforderlich, sich für die Überwindung dieser Ursachen einzusetzen. Es gilt dann darauf zu achten, dass die Entwicklungsarbeit in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung geschieht und sie mit einbezogen wird. Daher ist die schulische Ausbildung ein wichtiger Faktor, ebenso die medizinische und hygienische Versorgung.

 

Redaktion : wie können wir den europäischen Populisten dies verständlich machen ? Und wie ist Ihre Haltung zu der Tatsache, dass Rettungsschiffe, die gefährdete und ertrinkende Flüchtlinge aufnehmen, keine europäischen Häfen anlaufen dürfen?

 

Bischof Jousten : Selbstverständlich geht es auch darum, eine echte Demokratie auf politischer Ebene aufzubauen. Leider sind Diktatur, Alleinherrschaft und Korruption heute noch gang und gäbe.

 

Die Abweisung von „Rettungsschiffen“ in europäischen Häfen ist in meinen Augen nicht zu verantworten. Aber die Haltung der italienischen Regierung z.B. legt den Finger – auf Kosten der Geretteten – auf den Wirrwarr innerhalb der Europäischen Union. Und dort spielt Ideologie und Populismus eine nicht geringe Rolle. Ein trauriges Schauspiel!

 

Redaktion : Es sind Politiker, die gesetzliche Entscheidungen treffen. Auch in Fragen der Einwanderung. Sie sind teilweise getragen von Volkes Meinung. Manchmal unter dem Vorwand, das christliche Abendland vor Überfremdung schützen zu wollen. Wie stehen Sie dazu?

 

Bischof Jousten : Am Schluss meiner Antwort auf eine vorige Frage habe ich schon etwas zu dieser Haltung von Politikern gewisser Länder gesagt. Populistische Antworten seitens Politiker sind zu billig als Reaktion auf die Ängste, die in  der einheimischen Bevölkerung besteht: Unsere Gesellschaft könnte sich durch die massive Einwanderung radikal verändern und sogar „islamisiert“ werden, da viele Flüchtlinge aus dem Osten Muslime sind. Diese Angst besteht seit langem und wurde im letzten Jahrzehnt durch die seit 2001 verübten Attentate und die durch seit einigen Jahren den Mittleren Osten tyrannisierenden Djihadisten (Islamischer Staat) wesentlich verstärkt. Leider zeigt sich der Islam allzu oft von seiner beängstigenden Seite. Gewisse europäische Kreise schüren zudem das Feuer, so dass die Angst sich nicht selten in Hass und Ablehnung verwandeln kann.  Ohne Naivität glaube ich sagen zu dürfen, dass wir den Teufel nicht an die Wand malen sollten. Selbstverständlich sollen wir nicht blauäugig sein. Das Gebot der Stunde drängt dazu, die  Flüchtlinge aufzunehmen. Dazu verpflichtet uns nicht nur der Glaube, sondern die Wertegemeinschaft Europa, die sich in unseren Gesetzen und im Recht widerspiegelt. Der Besuch von Papst Franziskus in den Arabischen Emiraten war ein mutiger und deutlicher Vorstoß, um eine andere Seite des Islam kennenzulernen und zu fördern.

 

Redaktion : Oft werden die christlichen Werte oder wird die christliche Leitkultur ins Feld geführt, um gegen vermeintliche Überfremdung zu argumentieren. Wie weit ist dann noch der Weg bis zu der Behauptung, der Islam gehöre nicht zu Europa. Was ist dran an dieser Argumentation ?

 

Bischof Jousten : Häufig ist die Rede von der Bedrohung des „christlichen Abendlandes“. Dazu einige Überlegungen. Zunächst soll festgehalten werden, dass das Abendland, also vor allem Europa, neben anderen Wurzeln vor allem jüdisch-christliche Wurzeln hat. Seitdem das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion wurde, hat sich die abendländische Welt im Laufe der Jahrhunderte in vielerlei Richtungen entwickelt. Am Anfang des 21. Jahrhunderts können wir feststellen, dass das Christentum das Gesicht Europas nicht mehr so prägt und bestimmt, wie dies einmal der Fall gewesen ist. Wir leben heute, zumindest in Westeuropa, in einer vom Pluralismus gekennzeichneten Welt und Gesellschaft. Es kommt darauf an, dass alle Kräfte aller Religionen und Überzeugungen sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen. Ich erinnere nur an den Klimawandel.

 

Innerhalb der Gesellschaft kommt es darauf an, sich nicht gegenseitig zu bedrohen, sondern miteinander ins Gespräch zu kommen und den Dialog im Geben und Nehmen zu suchen. Wenn alle einander wohlwollend und ohne Vorurteil bzw. Vorverurteilung begegnen und schätzen, wird die Welt besser werden. Es kommt dabei auch darauf an, dass wir Christen z.B. mit den anderen und wie sie „den aufrechten Gang“ einüben, also fest verwurzelt und  überzeugt, aber ohne Überheblichkeit aufeinander zugehen.

 

Redaktion : Die Asylsuchenden hierzulande werden teilweise von der öffentlichen Hand betreut, teilweise von Vereinigungen und Privatpersonen unterstützt. Manchmal hört man Sätze wie: „Den Ausländern wird alles vorne und hinten reingeschoben? Und unsereins muss jeden Cent umdrehen.“ Was raten Sie den hiesigen Menschen zum Umgang mit den „Ausländern“?

 

Bischof Jousten : Ich glaube nicht, dass diese Behauptung stimmt. Sie ist in meinen Augen ein zu billiges Argument. Belgien ist eines der Länder, in denen die Sozialversicherung und die austeilende Gerechtigkeit am besten verwirklicht werden. Hüten wir uns doch vor Schlagwörtern und Parolen, die wir nicht belegen können. Selbstverständlich soll jeder Missbrauch von öffentlichen Geldern geahndet werden.

 

Meinen Mitbürgern und Mitbürgerinnen empfehle ich, dass wir versuchen, zunächst zu erfahren, weshalb und auch unter welchen Umständen die „Ausländer“ zu uns gekommen sind. Wie wäre mir zumute, wenn ich ihren Weg von Zuhause bis bei uns machen müsste?

 

Ich empfehle weiter, dass wir ihnen nicht aus dem Wege gehen, sondern versuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wo und wann dies sich ergibt. Interessant ist gleichfalls das Kennenlernen der Kulturen, der Lebensstile, der Religionen usw. Wir schauen uns manchmal Berichte über ferne Länder im Fernsehen an, reisen in die weite Welt. Weshalb nicht mit den Menschen aus der weiten Welt bei uns reden? Im Gespräch und bei anderen Gelegenheiten können wir uns gegenseitig bereichern, denn  jeder hat etwas zu teilen und nicht nur zu empfangen oder zu geben. Die Vielfalt ist ein Reichtum, den es zu entdecken gilt.

 

Redaktion : Lieber Herr Jousten, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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