Interview – männlich, 19 Jahre, Flüchtling aus Afghanistan.

Asadi Poya (Zum Schutz der Person wurde der Name geändert)

Männlich, 19 Jahre, Flüchtling aus Afghanistan, unverheiratet, keine Kinder, seit 2 Jahren in Belgien.

Er erzählt, wie er von einem kleinen Dorf in Afghanistan den langen Weg nach Belgien hinter sich gebracht hat – und warum.

Eine Odyssee.

Ein Erlebnisbericht.

Meine Flucht von meinem Heimatdorf bis nach Eupen dauerte mehrere Monate. Ich habe viele Länder durchquert, bin sehr weite Strecken zu Fuß gegangen, durch Wälder, über Berge, und oft war es sehr gefährlich. Es war nachts, also dunkel und oft sehr kalt und auch nass. Manchmal sind wir mit dem Auto gefahren, bis wir an eine Landesgrenze kamen. Dann mussten wir zu Fuß weiter.

Es war sehr anstrengend, weil wir wenig zu essen hatten, keine Kleidung zum Wechseln und immer die Angst im Nacken, von der Polizei entdeckt und wieder zurückgeschickt oder verhaftet zu werden. Die Polizisten in manchen Ländern waren sehr brutal, in anderen Ländern waren sie freundlich.

 

Meine Kindheit habe ich mit meiner Familie in einem kleinen Dorf in Afghanistan verbracht. Mein Vater starb, als ich klein war. Ich habe ihn nicht gekannt. Es gab zwar eine Schule in unserem Dorf, aber wegen des Krieges hatte meine Mutter Angst, mich in die Schule zu schicken.

 

Trotz des Krieges habe ich auch schöne Erinnerungen an meine Kindheit, als ich mit meinen Freunden und Nachbarskindern spielte, wir unsere Einkäufe im Dorf machten und ein fast normales Leben führten. Es wurde auch nicht jeden Tag gekämpft. Manchmal blieb es eine ganze Woche ruhig, bevor die Kämpfe von neuem losgingen. Wir wussten nie, wann die Schießereien endeten und wieder beginnen würden. Deshalb hatten wir fast immer Angst, und diese Angst gehörte wie der Krieg zu unserem Leben. Nachts hatte ich Angst, wenn um unser Haus herum geschossen wurde. Am nächsten Morgen erfuhren wir, wer von unseren Nachbarn oder Bekannten ums Leben gekommen war. Eines Tages erfuhr ich, dass mein bester Freund erschossen worden war.

 

Die Amerikaner setzten im Kampf gegen die Taliban auch Drohnen ein, die sehr präzise ihre Ziele trafen. Wir zählten die Drohnenschüsse und wussten so, wie viele Personen getötet worden waren.

Als ich 16 Jahre alt war, kam mein Onkel eines Tages zu mir und sagte, ich müsste mein Dorf und auch mein Land verlassen, um in Sicherheit leben zu können und um eine bessere Zukunft zu haben. Ich war sehr traurig, meine Familie zu verlassen, aber ich hatte keine Wahl.

 

Mein Onkel gab mir Geld in unterschiedlichen Landeswährungen der Länder, die ich durchqueren würde, auch ein paar US-Dollar und ein Handy, damit ich die verschiedenen Kontaktpersonen, die meine Flucht organisierten, erreichen konnte. Mein Onkel hatte alles genau vorbereitet und sagte mir beim Abschied, dass ich nur Landwege benutzen und auf keinen Fall übers Meer fahren durfte. Das sei zu gefährlich.

So stieg ich in das Auto eines fremden Mannes, der mich zur nächsten Grenze bringen sollte. Ich weinte und verstand nicht, was nun mit mir passieren würde. An der Grenze ließ der Mann mich aus dem Auto und zeigte mir die Richtung, in die ich laufen sollte, um zu Fuß die Grenze zu überqueren. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch allein.

 

Später auf meiner Flucht habe ich viele andere Menschen getroffen, die in der gleichen Situation wie ich waren. Manchmal waren wir viele Stunden lang eng zusammengepfercht in einem Auto, bis wir den Punkt erreichten, von dem aus wir viele Stunden zu Fuß durch den Wald und durch die Berge marschieren mussten. Wir hielten uns beim Laufen aneinander fest, um uns in der Dunkelheit nicht zu verlieren. Manchmal fuhren wir auch ein Stück mit dem Bus. Aber immer mussten wir uns vor der Polizei verstecken und auf der Hut sein.

Zum Glück hatte ich mein Handy und konnte manchmal mit meinem Onkel sprechen. Mit der Hilfe meines Onkels konnte ich auch mit meiner Familie Kontakt aufnehmen. Das tat gut, war aber auch sehr schwer. Ich hatte Lust zu weinen, und sah die Tränen meiner Familie. Aber ich musste stark sein, durfte meine Gefühle nicht zeigen und sagte, dass es mir gut geht…

Eines Tages wurden wir von der Polizei kontrolliert und mussten unsere Papiere, Geld und die Handys abgeben. Wenn jemand nicht gehorchte, wurde er geschlagen oder es wurden die Polizeihunde auf ihn gehetzt. So musste ich mich auch von meinem Handy trennen. Das Geld fand die Polizei nicht, da ich es in meine Kleider eingenäht hatte.

 

Ich war sehr müde, aber ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, weil ich weiter musste, um mein Ziel zu erreichen, Belgien; dieses Land, von dem ich nie etwas gehört hatte,  von dem ich nicht wusste, wo es lag, wie weit entfernt es von meinem Heimatland war und wo ich ganz allein sein würde…

So ging meine lange Reise weiter, mal im Auto von wildfremden Menschen, manchmal im Bus, oft zu Fuß… und immer mit dieser tiefsitzenden Angst vor Tod und Ungewissheit. Mehrere Male glaubte ich, dass ich sterben würde, weil wir in eine  bewaffnete Polizeikontrolle gerieten oder weil der Weg durch unwegsames Gelände so gefährlich war.

Manchmal blieben wir mehrere Tage an einem Ort und warteten, bis uns jemand abholte und weitertransportierte oder uns sagte, mit welchem Zug oder Bus wir weiterfahren mussten und wohin. Die Namen der meisten Städte, in die ich kam, hatte ich nie gehört und wusste nicht einmal, wo sie lagen.

 

Manchmal übernachtete ich im Haus fremder Menschen, z.B. einer der Kontaktpersonen, die an der Organisation meiner Flucht beteiligt waren. Ich bekam dann etwas zu Essen und mir wurde erklärt, wie die nächste Etappe aussah, wer meine neue Kontaktperson war, wenn ich den nächsten Ort erreichte und wie ich mich verhalten sollte, wenn ich in eine Polizeikontrolle geriet.

Da nicht alle Flüchtlinge, denen ich unterwegs begegnete, nach Belgien wollten, wechselte ich oft die Weggenossen. Oft wurden wir auch getrennt, weil wir nicht dieselbe Kontaktperson hatten oder weil wir nicht dieselben Transportmittel oder Wege nahmen.

In einigen Ländern wurden wir registriert und unsere Fingerabdrücke aufgenommen.

Einmal kamen wir in ein Flüchtlingslager. Dort gab man uns frische Kleider und neue Schuhe, da die Schuhe, die wir an unseren Füßen trugen, kaputt und abgenutzt waren.

Die letzten Stationen meiner langen Flucht legte ich mit dem Zug zurück. Einmal verpasste ich den Zug, den ich nehmen sollte, weil ich auf dem Bahnsteig eingeschlafen war. Es kam auch vor, dass wir mehrmals versuchen mussten, die Grenze zu passieren, da die Polizei uns immer wieder zurückschickte, manchmal auch unter scharfen Drohungen.

 

Nach vielen Strapazen und Problemen kam ich schließlich in Brüssel an. Dort wurde ich registriert und musste ein einstündiges Gespräch beim Kommissariat führen. Mir wurden viele Fragen gestellt, um zu sehen, ob ich die Wahrheit sagte.

Nach diesem ersten Interview auf Französisch, in Anwesenheit eines Dolmetschers und eines Anwalts, musste ich ein paar Monate später zu einem zweiten Gespräch, das vier Stunden dauerte und das entscheiden sollte, ob ich Asyl bekommen würde oder nicht.

Glücklicherweise war das Ergebnis positiv, und ich bekam sehr schnell eine fünfjährige Aufenthaltserlaubnis, die mir jetzt ermöglicht, meine Zukunft in Belgien zu planen. Bevor ich nach Eupen kam, hatte ich zunächst einen Monat lang in einem Flüchtlingsheim in Brüssel gewohnt. Kurz nach meiner Ankunft in Eupen schickte man mich in eine Schule, um die deutsche Sprache zu lernen. Dort lernte ich sehr nette Lehrer kennen, die mir bei meiner Integration helfen wollten und zu denen ich heute noch Kontakt habe

Nach zwei Jahren in dieser Schule besuche ich nun einen B1-Deutschkurs und möchte am Ende des Kurses das Zertifikat Deutsch B1 beim Goethe-Institut in Brüssel absolvieren.

 

Ich möchte auch die mittlere Reife machen, damit ich anschließend eine Ausbildung zum  Altenpfleger beginnen kann. Einen Praktikumsplatz habe ich schon gefunden. Ich freue mich sehr über diese neuen Perspektiven in meinem Leben in Belgien. Das hilft mir positiv zu sein und Hoffnung in meine Zukunft zu haben.

Es ist manchmal sehr schwer, allein in einem fremden Land zu sein, allein mit all den Erinnerungen an schlimme Erlebnisse und an die Menschen, die ich liebe und die so weit weg sind. An manchen Tagen fühle ich mich sehr traurig. Alles erscheint mir schwarz und unerträglich, und ich habe das Gefühl, ich schaffe es nicht. Dann gibt es glücklicherweise auch wieder bessere Tage, an denen ich nette Menschen treffe, die mir helfen wollen. Das gibt mir wieder Mut und Hoffnung.

 

Ich versuche optimistisch zu sein und mehr an meine Zukunft zu denken als an das, was ich in meinem Land zurückgelassen habe und all die schrecklichen Dinge, die ich auf meiner Flucht erlebt und gesehen habe.

Heute sage ich mir: Gott sei Dank, dass ich in Belgien und in Sicherheit bin und neue Perspektiven für meine Zukunft gefunden habe.

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